tschechische Philosophie

tschechische Philosophie
tschẹchische Philosophie,
 
Sammelbezeichnung für die philosophischen Entwicklungen im tschechischen Sprachraum. Die tschechische Philosophie entstand im Laufe der Spätscholastik (Gründung der Karls-Universität in Prag 1348). Erste Hauptvertreter eines philosophisch-religiösen Denkens waren Stanislaus von Znaim (✝ 1415), J. Hus, der mit seiner Kritik an der katholischen Kirche und deren Lehre zugleich als Beispiel emanzipatorischen Denkens auf die Reformation wirkte, P. Chelčický und T. Štítný (nationalsprachliche Schriften anstelle des Latein). Übernatürliche Bedeutung gewann im 17. Jahrhundert der Theologe und Pädagoge J. A. Comenius. Von Halle (Saale) und Leipzig aus erreichte die Aufklärung im Laufe des 18. Jahrhunderts Prag. Die weitere Entwicklung der tschechischen Philosophie wurde auch durch die Gewährung der Religionsfreiheit 1781 (Toleranzpatent Kaiser Josephs II.) gefördert. Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Karls-Universität deutsch-sprachig. In dieser Phase traten als einer der führenden Logiker des 19. Jahrhunderts B. Bolzano, als Hegelianer Augustin Smetana (* 1814, ✝ 1851) hervor. Zu den ersten selbstständigen Beiträgen im engeren Sinn rechnen die Ästhetik und eine zunehmend panslawistische Geschichtsphilosophie des Romantikers F. Palacký sowie naturphilosophische Ansätze von J. E. Purkinje. Offizielle Förderung erfuhr der Herbartianismus, der bald eine Wende zum Positivismus nahm (u. a. Matiáš Amos Drbal, * 1829, ✝ 1885; Josef Durdík, * 1837, ✝ 1902). Bahnbrechend wirkte der von A. Comte beeinflusste demokratisch und humanistisch eingestellte T. G. Masaryk, der das slawische Denken der Neuzeit dem Westen erschloss und sich kritisch mit dem Marxismus auseinander setzte. Zu seinen Schülern gehörten der neovitalistisch orientierte Biologe Emanuel Rádl (* 1873, ✝ 1942) und der Reformtheologe J. L. Hromádka. U. a. von A. Schopenhauer und F. Nietzsche beeinflusst waren O. Březina und L. Klíma. Zwischen den Weltkriegen ragten v. a. der strukturalistische Soziologe und Erkenntnistheoretiker Josef Ludvík Fischer (* 1894, ✝ 1973) und der Literaturtheoretiker J. Mukařovský hervor. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die marxistisch-leninistische Philosophie bestimmend (Zentrum: die tschechoslowakische Akademie der Wissenschaften in Prag). Einige Philosophen emigrierten (z. B. Milic Čapek, * 1913, ✝ 1989, in die USA, Jaromír Daněk, * 1925, nach Kanada). Ansätze zu einer relativ unabhängigen philosophischen Geschichtsforschung und Wissenschaftsteorie (Josef Zumr, * 1928; Milan Sobotka, * 1927) wurden 1969/70 offiziell unterbunden. Zu den bedeutendsten, aus dem Prager Frühling 1968 hervorgegangenen Denkern und Mitgliedern der Bürgerrechtsbewegung »Charta 77« zählen J. Patočka sowie der Geschichtsphilosoph Karel Kosík (* 1926), deren Versuche, im Untergrund eine freie Forschung mit internationalen Kontakten zu betreiben (u. a. Gründung einer privaten »Patočka-Univ.«), staatlicher Verfolgung ausgesetzt waren. In der tschechischen Philosophiegeschichte immer wieder thematisiert wurden die Begriffe der Freiheit und Humanität, die in unterschiedlichen Zusammenhängen jeglichen Formen der Unterdrückung und des politischen Dogmatismus entgegengehalten wurden.
 
 
Hegel bei den Slaven, hg. v. D. Tschižewskij (21961);
 N. Lobkowicz: Marxismus-Leninismus in der ČSR (Dordrecht 1961);
 
Das hussit. Denken im Lichte seiner Quellen, hg. v. R. Kalivoda u. a. (a. d. Tschech., 1969);
 J. Zumr: Philosophie der Gegenwart in der Tschechoslowakei, in: La philosophie contemporaine, hg. v. R. Klibansky, Bd. 4 (Florenz 1971);
 K. Chvatík: Tschechoslowak. Strukturalismus (a. d. Tschech., 1981);
 A. Thomas: The labyrinth of the world. Truth and representation in Czech literature (München 1995).

Universal-Lexikon. 2012.

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